Das Nibelungenlied
Das Nibelungenlied gilt als älteste schriftliche Darlegung der Nibelungensage, die in verschiedenen Versionen mit unterschiedlichen Schwerpunkten überliefert ist. Das Epos ist das komplexe, kunstvoll gewobene Werk eines unbekannten Autors und entstand etwa Ende des 12. oder Anfang des 13. Jahrhunderts. Die Figuren zeigen für die hochmittelalterliche Dichtung unübliche, detailliert ausgearbeitete Charaktere, die sie zum Teil sehr modern wirken lassen. So ist etwa die Protagonistin Kriemhild die erste geschilderte Frauenfigur, die ihr Schicksal nicht einfach hinnimmt, sondern selbst zu handeln beginnt. Das Werk behandelt den Niedergang des Burgunderreichs durch Kriemhilds Rache an Hagen, dem Mörder ihres Mannes, und an ihren Brüdern. Im Nibelungenlied erfolgt somit eine völlig neue Orientierung, bei der die altgermanische Sippenbindung durch eine Liebesbindung abgelöst wird.
Zahlreiche Heldenepen und -lieder aus dem Mittelalter basieren auf dem Stoff der Nibelungensage oder zeigen sich von diesem beeinflusst. Dies gilt beispielsweise für die Liederedda und die Snorra Edda als ihre Prosaparaphrase sowie für die Völsunga Saga. Epen wie etwa die Thidrekssaga enthalten ebenfalls Elemente des Sagenstoffs der Nibelungen, die jedoch in teilweise stark abweichender Form dargeboten werden. Die geläufigste und bekannteste Fassung der Sage ist das Nibelungenlied.
Versionen des Nibelungenlieds
Das in mittelhochdeutscher Sprache verfasste Nibelungenlied ist das bedeutendste deutsche Heldenepos des Mittelalters. Die Handschrift eines unbekannten Autors entstand zwischen 1180 und 1210 im Donauraum, als Entstehungsort wird das Gebiet zwischen Passau und Wien angenommen. Nach heutiger Einschätzung könnte ein literarisch hochgebildeter Kleriker am Passauer Bischofshof der Verfasser des Epos gewesen sein. Es liegen heute 34 Handschriften des Nibelungenlieds aus dem 13. bis 16. Jahrhundert vor, von denen elf vollständig und 23 nur fragmentarisch erhalten sind. Sie weichen bezüglich des Inhalts und des Umfangs voneinander ab. Auffällig ist beispielsweise die bei manchen Versionen fehlende Einleitung. Obwohl sich alle Handschriften im Detail unterscheiden, bleibt die Grundstruktur der Dichtung jedoch gleich. Die drei ältesten vollständigen Handschriften, die für die Editionen des Nibelungenlieds als entscheidend herangezogen werden, sind durch zwei Hauptfassungen repräsentiert: Handschrift A (Hohenheim-Münchener Handschrift mit 2316 Strophen) und Handschrift B (St. Gallener Handschrift mit 2376 Strophen). Beide zählen zur sogenannten „Not“-Fassung. Handschrift C (Hohenheim-Laßbergische oder Donaueschinger Handschrift mit 2442 Strophen) gehört zur „Liet“-Fassung. Diese Zuordnung bezieht sich auf den Schlussvers. Er lautet entweder „hie hat daz maere ein ende: daz ist der Nibelunge nôt“ oder „hie hat daz maere ein ende: daz ist der Nibelunge liet“. Der heutige Titel des Werkes entspricht dem Schlussvers der Handschriftengruppe C.
Gestaltung in der Tradition der Heldensagen
Die jahrhundertelange Tradition der Heldensagen hat im hochmittelalterlichen Nibelungenlied ihre Spuren hinterlassen. Obwohl es sich um eine höfische Dichtung der Stauferzeit handelt, ist der germanisch-heroische Ethos erhalten geblieben, der allerdings mit den zeittypischen höfischen Formen konfrontiert wird. Die unerbittliche Härte und der Pessimismus des Nibelungenlieds stehen dabei im Gegensatz zum idealistischen Optimismus des höfischen Romans. So zeigen sich höfische Anklänge im Nibelungenlied nur als äußere Einkleidung, denn von der ersten Aventiure an weisen Vorausdeutungen auf die Entwicklung zur Katastrophe hin. Dabei wirkt der Gegensatz zwischen den dargestellten höfischen Lebensformen und den Elementen wie Betrug, Mord und Rache sowie Machtgier frappierend. Er entspricht jedoch der Diskrepanz zwischen den humanisierenden Forderungen des höfischen Ideals und der damit nicht übereinstimmenden historischen Wirklichkeit. Des Weiteren verleihen Details der Personengestaltung dem Nibelungenlied eine größere Realitätsnähe, als sie andere höfischen Dichtungen jener Zeit zeigen. So wird beispielsweise Kriemhild von der heutigen Forschung allgemein als die realistischste Gestalt der hochmittelalterlichen deutschen Literatur eingestuft und als erste wirklich individuelle Figur angesehen. Des Weiteren wird Hagen im ersten Teil des Epos als hochmittelalterlicher Vasall geschildert, dagegen erscheint er im zweiten Teil als archaischer und heroischer Typus. Fast schon modern wirkt die Figur des Rüdiger, der wegen der Konflikte, die aus seinen unterschiedlichen Bindungen erwachsen, unter Seelennöten leidet. Die Kunstfertigkeit des Autors zeigt sich vor allem in der weitschweifig angelegten Verknüpfung der Handlung, in der anschaulichen Herausarbeitung dramatischer Einzelszenen und in der Emotionalisierung bestimmter Personenkonstellationen.
Historischer Kern des Epos
Die mündliche Überlieferung und die dichterische Ausgestaltung der Sage lassen kaum Rückschlüsse auf tatsächliche historische Ereignisse zu. Lediglich die Ähnlichkeiten bei manchen Namen erlauben es, auf einen historischen Kern in der Völkerwanderungszeit zu schließen. So könnte mit dem Gunther der Nibelungensage der Burgunderkönig Gundaharius gemeint sein. Unter dem Kommando des römischen Feldherrn Aetius, dessen Heer von hunnischen Auxiliartruppen unterstützt wurde, erlebte der König in der Schlacht bei Worms im Jahre 436 die Vernichtung seines Heeres. Diese Niederlage begründete die Auflösung des Burgunderreichs. Eine weitere Namensähnlichkeit könnte auf die literarische Verarbeitung eines durch Mord beendeten Konflikts hinweisen, mit dem sich das Haus der Merowinger im 6. Jahrhundert konfrontiert sah. Die Brünhild der Nibelungensage könnte somit die merowingische Königstochter Brunichild sein, die ihre Rivalin Fredegunde ermordet haben soll. Auch die Ereignisse um die Hochzeit Attilas mit der gotischen Fürstentochter Ildiko im Jahre 453 – die Hochzeitsnacht endete mit dem Tod Attilas – könnten sich in der Sage widerspiegeln.
Aufbau des Nibelungenlieds
Das Nibelungenlied ist in 39 kapitelartige Abschnitte, die „Aventiuren“ unterteilt, die unterschiedlicher Länge sind und wahrscheinlich Vortragseinheiten darstellten. In den meisten Handschriften sind diese Kapitel mit Überschriften versehen, die den jeweiligen Inhalt anreißen. Das Lied ist in Form der sogenannten Nibelungenstrophe gedichtet. Eine Strophe beinhaltet vier paarweise gereimte Langzeilen mit variabler Füllung. Das Epos gliedert sich in zwei ursprünglich selbstständige Teile. Der erste Teil umfasst die Handlung um Siegfried, Kriemhild und Brünhild. Zwischen der 19. und 20. Aventiure erfolgt ein Handlungseinschnitt. Im nun folgenden zweiten Teil wird der Untergang der Burgunden beschrieben. Abgesehen von der kausalen Verknüpfung zwischen Siegfrieds Tod und Kriemhilds Rache korrespondieren beide Teile durch die Wiederholung von Motiven und Erzählsträngen wie etwa Streitszenen, verräterische Einladungen und Brautwerbungen miteinander.
Erster Teil des Epos
Die Erzählung beginnt mit der Schilderung der Jugendzeit der burgundischen Königstochter Kriemhild am Königshof zu Worms und der Einführung der Figur des niederländischen Königssohns Siegfried, der in Xanten lebt. Kriemhild wächst zusammen mit ihren drei Brüdern Gunther, Gernot und Giselher vaterlos bei ihrer Mutter Ute auf. Gemäß der hochmittelalterlichen Rechtslage agieren die Brüder, die allesamt bereits erwachsen sind und als Könige bezeichnet werden, gemeinsam als Vormund von Kriemhild.
Kriemhilds schicksalhafter Traum
Kriemhild verfolgt ein wiederkehrender Traum. In diesem erscheint ihr ein Falke, den sie zähmt. Der Vogel wird jedoch vor ihren Augen von zwei Adlern in Stücke gerissen. Ihre Mutter deutet den Traum als Warnung. Laut ihrer Ansicht steht der Falke für einen edlen Mann, den Kriemhild verlieren wird, wenn sich Gott dieses Mannes nicht in Gnade annimmt. Verstört über die Auslegung des Traums seitens ihrer Mutter beschließt Kriemhild, niemals in den Ehestand zu treten und ihr Leben als Jungfrau zu verbringen. Ute versucht daraufhin, die Auswirkungen ihrer Deutung auf Kriemhild abzumildern, indem sie zahlreiche Argumente ins Feld führt, die für die Liebe sprechen. Ihre Bemühungen bleiben jedoch zunächst erfolglos.
Siegfried als junger Held
Siegfried wird mit zahlreichen positiven Attributen wie jung, schön, stark, kampfgewandt, abenteuerlustig und mutig eingeführt. Des Weiteren soll er zum vorbildlichen Herrscher erzogen worden sein. Kriemhilds Ruf als unvergleichlich schöne Königstochter ist bis zu ihm nach Xanten gedrungen. So bricht er nach der Feier seiner Schwertleite begleitet von zwölf Gefährten nach Worms auf, um Kriemhild für sich zu gewinnen. Bei seiner Ankunft dort ist Hagen der einzige der Burgunden, der ihn erkennt. Hagen erzählt sodann, welche Taten Siegfried in seinem jungen Leben bereits vollbracht hat. Dazu zählen der Erwerb des Schwertes Balmung und der Sieg im Kampf um den Nibelungenhort, den der Zwerg Alberich bewachte. Auch dessen Tarnkappe in Form eines magischen Umhangs konnte er an sich bringen. Darüber hinaus schildert Hagen Siegfrieds Bezwingung des Drachens und sein Bad in dessen Blut, das ihn unverwundbar werden ließ. Dabei blieb jedoch eine Stelle am Körpers des jungen Recken unberührt. Ein herabfallendes Lindenblatt, das während des Bads an seinem Rücken haften blieb, verhinderte die völlige Unverwundbarkeit, sodass dieser Teil seines Körpers für ihn zur Achillesferse wurde.
Neue Heldentaten Siegfrieds
Am Wormser Hof vollbringt Siegfried weitere Heldentaten. So hat er beispielsweise großen Anteil am Sieg über angreifende Sachsen und Dänen. Zudem unterstützt er König Gunther bei dessen Brautwerbung um die isländische Königin Brünhild und hat entscheidenden Anteil am positiven Verlauf. Brünhild eilt der Ruf voraus, für eine Frau außergewöhnlich stark zu sein. Deshalb will sie nur den zum Manne nehmen, der sie im Dreikampf besiegt. Mithilfe seines Tarnumhangs, der ihn unsichtbar werden lässt, vermehrt Siegfried die Körperkräfte Gunthers, indem er ihn beim Weitsprung trägt. Dadurch verhilft er ihm in dieser Disziplin zum Sieg. Auch im Stein- und Speerwurf bleibt Gunther durch Siegfrieds Manipulationen siegreich. Brünhild hält Gunther ob der gelungenen Täuschung für würdig, ihr Ehemann zu werden. Doch in der Hochzeitsnacht ist Siegfried erneut gefordert, dem König beizustehen. Die nordische Edle verspürt nämlich in dieser Nacht kein Verlangen nach ihrem Gemahl. Sie fesselt ihn und hängt ihn an einen Nagel, der sich in der Wand befindet. Siegfried hört die Klage Gunthers, setzt die Tarnkappe auf und befreit ihn aus seiner misslichen Lage, sodass die Hochzeitsnacht nun vollzogen werden kann.
Konflikte durch Siegfrieds Eheschließung mit Kriemhild
Als Dank für seine Hilfe erhält Siegfried von Gunther nun die Erlaubnis, Kriemhild zu heiraten. Diese hat ihren ahnungsvollen Traum sowie ihren Schwur, Jungfrau zu bleiben, mittlerweile vergessen und zeigt sich ganz hingerissen von ihrem Bräutigam. Doch Brünhild ist gegen diese Eheschließung, da sie Siegfried für einen Vasallen ihres Ehemannes hält und ihn deshalb als nicht standesgemäß ansieht. Sie findet allerdings unter den Burgunden keine Anhänger für ihre These und so wird die Vermählung zwischen Siegfried und Kriemhild vollzogen. Brünhild fühlt sich jedoch bezüglich ihrer gesellschaftlichen Stellung weiterhin vorrangig gegenüber Kriemhild, da der Status Gunthers aus ihrer Sicht höher anzusiedeln ist. So führen die beiden Ehen schließlich zum Konflikt, bei dem die Frauen öffentlich darüber miteinander streiten, welcher der Männer der Edlere ist. Der Streit eskaliert, als Kriemhild den Betrug bei der Brautwerbung Gunthers und die Geschehnisse in der Hochzeitsnacht kundtut und Brünhild zudem beleidigt.
Ermordung Siegfrieds durch Hagen
Hagen ist dadurch gekennzeichnet, dass er als einzige Figur des Epos politische Entwicklungen und sich daraus ergebende Ereignisse voraussieht. Er weist darauf hin, dass das Ansehen König Gunthers und seiner Frau durch die Enthüllungen Kriemhilds ernsthaft in Gefahr sei. Auf Anraten Hagens beschließen die burgundischen Könige nun gemeinsam den Mord an Siegfried. Hagens Motive, die seiner Warnung zugrunde liegen, sind nicht uneigennützig. Sie schließen eigene Vorteile ein, wie etwa die Abwehr der Bedrohung seiner Macht und einen zusätzlichen Machtgewinn. Er selbst führt den Mordplan aus, indem er einen Speer gezielt in die verwundbare Stelle an Siegfrieds Rücken stößt. Kriemhild ist verzweifelt ob des Todes ihres Ehemannes, muss jedoch einen weiteren Verlust und eine Demütigung hinnehmen. So versenkt Hagen den Nibelungenhort im Rhein, um ihr die finanzielle Möglichkeit zu nehmen, sich an ihm und an ihren Brüdern zu rächen.
Zweiter Teil des Epos
Kriemhild und Hagen werden durch seine Tat zu Gegenspielern und handlungsbestimmenden Figuren des zweiten Teils der Geschichte. Er beginnt mit der Werbung des Hunnenkönigs Etzel um die Hand Kriemhilds. Sie sieht in der Ehe mit Etzel die Möglichkeit, ihre nie verblassten Rachegelüste doch noch zu befriedigen und willigt deshalb ein. Nach 13 Jahren an der Seite Etzels lädt Kriemhild ihre Verwandtschaft zu einem Fest ins Land der Hunnen ein. Hagen ahnt als einziger der Männer, dass die Einladung eine Falle sein könnte. So rät er dringend davon ab, sie anzunehmen. Auch Ute warnt ihre Söhne und bittet sie, die Reise zu unterlassen. Ebenso wie Kriemhild vor der Heirat mit Siegfried hatte die Mutter der Könige einen schrecklichen, vorausdeutenden Traum, in dem alle Vögel im Reich der Burgunden tot vom Himmel fielen. Doch die Burgunden wähnen sich wegen der inzwischen verstrichenen Zeit sowie der Verwandtschaft mit Kriemhild in Sicherheit und nehmen die Einladung an. Hagen ist jedoch nach wie vor von der Gefahr überzeugt, die eine Reise an den Hof des Hunnenkönigs birgt. Er sorgt deshalb für einen gut gerüsteten Zug, den 1060 Ritter und 9000 Knappen begleiten.
Kriemhilds Rache
Gleich nach ihrer Ankunft werden die Burgunden in Kämpfe verwickelt, die Kriemhild provoziert. Ihr Ehemann Etzel bleibt dabei völlig tatenlos, es gelingt ihr jedoch, seinen Bruder Bloedel sowie seine Gefolgsleute einzubinden. Dazu zählen Markgraf Rüdiger von Bechelam – eigentlich ein Freund der Burgunden und Etzels Brautwerber um Kriemhilds Hand – sowie Dietrich von Bern, die als exponierte Figuren geschildert werden, die niemand aufhalten kann. Schlichtungsversuche bleiben erfolglos, denn Kriemhild ist bereit, für ihre Rache das Leben aller Beteiligten zu opfern. Auch Etzel und der gemeinsame Sohn Ortliep sind davon nicht ausgenommen. So bringt Kriemhilds Rache am Ende einer heftigen Schlacht allen Burgunden den Tod. Lediglich Gunther und Hagen überleben, werden von Dietrich von Bern gefangengenommen und Kriemhild vorgeführt. Sie lässt Gunther sofort töten und beginnt ein Gespräch mit Hagen, in dessen Verlauf die Motive für den Mord an Siegfried aus der Sicht beider Figuren dargestellt werden. Des Weiteren trachtet sie danach, zu erfahren, wo sich der Nibelungenhort befindet. Hagen provoziert jedoch um des Geheimnisses willen seinen eigenen Tod. Kriemhild erschlägt ihn daraufhin mit Siegfrieds Schwert. Hildebrand, der alte Waffenmeister Dietrich von Berns und eigentlich Kämpfer an Kriemhilds Seite, zeigt sich zutiefst empört und tötet sie. Als Begründung führt er an, dass er diesen unfassbaren Frevel nicht ungesühnt habe hinnehmen können. Aus seiner Sicht hatte Kriemhild aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht nicht das Recht, einem so edlen Helden wie Hagen das Leben zu nehmen und deshalb ihr eigenes verwirkt. Das Epos klingt mit der allgemeinen Klage über den Tod aller Burgunden aus.
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Die Verquickung zwischen Klerus und Adel war während der gesamten Epoche des Mittelalters sowohl in wirtschaftlicher als auch in machtpolitischer Hinsicht von zentraler Bedeutung. |
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