Magie in der Medizin
Die Magie spielte in der Medizin und den therapeutischen Maßnahmen des Mittelalters eine erhebliche Rolle. Die Verfasser medizinischer Werke thematisieren die Vermischung von Medizin und Magie jedoch weder theoretisch noch prinzipiell und weisen auch nicht darauf hin, dass bei verschiedenen Heilmitteln okkulte Kräfte nutzbar gemacht werden sollen. Wesentlich war allein der praktische Nutzen einer Medizin, den die Heiler aufgrund ihrer Erfahrung benennen konnten. An zwei angelsächsischen Handbüchern, die weite Verbreitung zeigten, lässt sich sowohl der hohe Stellenwert als auch die Verquickung der Magie mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen exemplarisch ablesen.
Leechbook des Bald: systematisches Lehrbuch mit magischen Rezepten
Eines dieser Werke war das sogenannte Leechbook eines Heilers namens Bald. Die Handschrift stammt aus dem 10. Jahrhundert, wobei einige Inhalte deutlich älter, zum Teil antiker Herkunft sind. Äußere und innere Erkrankungen werden im ersten und zweiten Teil des Leechbooks systematisch beschrieben. Im dritten Kapitel folgt allerdings eine chaotische Sammlung von Therapien und Rezepten, in die recht großzügig christliche Riten wie der Gebrauch von Weihwasser einfließen sowie Elemente, die spätere Autoren als natürliche Magie bezeichnen. Ein Beispiel für die Vermischung der Bereiche Naturwissenschaften, christliche Riten und Magie veranschaulicht ein Rezept gegen Hautkrankheiten, das wie viele der Rezepte aus heutiger Sicht merkwürdig erscheint, für den Menschen des Mittelalters jedoch zu den fest verankerten Möglichkeiten der Behandlung von Krankheiten gehörte.
Rezept zur Behandlung von Hautkrankheiten
In diesem Rezept zur Selbstbehandlung wird dem Kranken empfohlen, die unteren Teile vier verschiedener Pflanzen – Elecampane, Vipernzunge, Bischofswurz und Kletten – im Mörser zu stampfen und mit etwas Gänseschmalz zu vermischen. Der ausgepresste Saft soll nun mit einem Löffel alter Seife und – falls vorhanden – mit etwas Öl versetzt werden. Die Paste darf nur abends auf die befallene Hautstelle aufgetragen werden. Nach Sonnenuntergang muss die Haut am Hals aufgeritzt werden, wobei das tropfende Blut in rinnendes Wasser laufen soll. Der Patient spuckt nun dreimal ins Wasser und spricht die folgende Formel: „Nimm diese Krankheit und nimm sie mit dir fort.“ Alle Schritte müssen schweigend ausgeführt werden. Die Überschneidungen zwischen üblicher Kräutermedizin und magischem Beiwerk, die sich in rituellen Handlungen wie der Beschwörung des Wassers oder der Tabuvorschrift des Schweigens zeigen, weisen diesem Rezept einen eindeutig magischen Charakter zu.
Lacnunga: medizinisches Sammelwerk mit hohem Anteil magischer Rezepte
Das zweite, im 11. Jahrhundert entstandene Werk beinhaltet einen weitaus höheren Anteil des Magischen als das Leechbook. Das Buch mit dem Titel Lacnunga ist ein Sammelwerk von Rezepten aus unterschiedlichen Kulturen. So finden sich dort Heilmittel der Angelsachsen, Kelten und Normannen, aber auch solche römischen, griechischen und jüdischen Ursprungs. Die Schrift bietet keine systematische Vorgehensweise und legt den Schwerpunkt auf die Ursachen diverser Leiden. Zu den Hauptgründen für Krankheiten aller Art zählt das Werk die Bosheit von Kobolden und Elfen, die in der christlichen Terminologie gleichzusetzen sind mit Dämonen. Als Gegenmittel empfiehlt der Autor christliche Gebete in lateinischer Sprache, die während des zeremoniellen Auftragens von Salben oder Tinkturen gesprochen werden sollen. Für ein Rezept zur Herstellung einer Heilsalbe für die Haut schreibt der Verfasser beispielsweise vor, dass als Grundstoff nur Butter infrage komme, die von einer ganz roten oder weißen Kuh stamme. 57 verschiedene Kräuter müssten nun unter das Fett gemischt werden. Umrühren dürfe man ausschließlich mit einem hölzernen Stock, in den die Namen der vier Evangelisten auf Latein eingeritzt seien. Zusätzlich sei es erforderlich, etliche Sprüche und Beschwörungsformeln zu rezitieren.
Magische Rezepte auf pflanzlicher und tierischer Basis
Auch in späteren Quellen englischer und kontinentaleuropäischer Herkunft gibt es eine Vielzahl solcher Rezepte. Die Ingredienzien sind häufig wenig spektakulär, allerdings erweisen sich die Verfahren zur Herstellung von Heilmitteln stets als recht kompliziert. Ihre wichtigsten Bestandteile sind tierischen oder pflanzlichen Ursprungs. Dabei existieren Rezepte für solche Mittel, die nur bei bestimmten Leiden verschrieben werden, neben anderen, die bei einer Vielzahl von Erkrankungen heilsame Wirkungen entfalten sollen. So wird beispielsweise die Alraune gegen Augenkrankheiten verwendet, aber auch zur Behandlung von Schlangenbissen, Wunden aller Art, Ohrenschmerzen, Gicht und Haarausfall verabreicht. Die wunderhaften Potenzen von Eiche und Eisenkraut finden ebenfalls in vielen Abhandlungen in Zusammenhang mit Rezepten magischen Charakters Erwähnung. Bei der Nutzung von Tieren zu Heilzwecken geht man dagegen durchgängig davon aus, dass sich die in einzelnen Organen oder Körperteilen vorhandenen heilsamen Eigenschaften jeweils zur Behandlung ganz spezifischer Leiden eignen.
Vorschriften bei der Herstellung magischer Heilmittel
Heiler, die sich magischer Rezepte bedienten, mussten etliche Kriterien beachten, um die magische Wirkung von therapeutischen Maßnahmen zu gewährleisten. Unabhängig vom jeweiligen magischen Ritual gab es bestimmte Gemeinsamkeiten bezüglich der Verfahrensweisen. So mussten etwa bei der Herstellung von Medikamenten häufig Tabus berücksichtigt werden. Derjenige, der Heilkräuter sammelte, durfte beispielsweise keine Schuhe tragen, musste sein Werk schweigend verrichten und zuvor sexuell enthaltsam leben. Solche Vorschriften standen in keinem Zusammenhang mit den eigentlichen Heilverfahren, sondern verfolgten lediglich den Zweck, die Reinheit der Arznei sicherzustellen oder die Macht des Heilers zu erhöhen.
Hohe Bedeutung der Symbolik und Einbeziehung von Himmelskörpern
Des Weiteren bestimmten manchmal symbolische Beziehungen die Wahl der Mittel. Wenn Tiere bei einem als Sympathiezauber bezeichneten magischen Ritual eine Rolle spielten, dann wurden solche bevorzugt verwendet, die sich durch Eigenschaften wie Schnelligkeit, Kraft oder Wildheit auszeichnen. Oft schreiben die Rezepte ausdrücklich die Verwendung eines männlichen Tieres wie eines Widders oder eines Bullen vor, da die Annahme herrschte, dass sich ihre größere Kraft auf die Heilwirkung übertragen und diese positiv beeinflussen würde. Doch auch weniger wilde Tiere kamen für magische Rezepte in Betracht. Gegen Gelbsucht empfahlen die Heiler, abgestandenes Bier zu trinken, dem klein gehackte Regenwürmer mit gelben Ringen beigefügt waren. Auch dieses Rezept gehört zur Kategorie Sympathiezauber. Magische Rezepte nehmen außerdem häufig explizit Bezug auf Himmelskörper. So wurde beispielsweise gegen verschiedene Geisteskrankheiten, die das Mittelalter unter dem Begriff „Mondsüchtigkeit“ fasst, zu einer Therapie geraten, die unterschiedliche Sternenkonstellationen einbezieht. Der Heiler band dem Patienten dazu ein rotes Tuch um den Kopf, das mit verschiedenen, vor Sonnenaufgang gepflückten Kräutern gefüllt war. Ihre Wirkung sollte diese Behandlung jedoch nur dann entfalten können, wenn zunehmender Mond herrschte.
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